Freitag, 11. November 2005
Sitzen bleiben, Alter!
Ich sitze in der U-Bahn. Es ist Sonntag. Schräg gegenüber sehe ich ein älteres Ehepaar. Agile Wandersleute, mitte sechzig, mit den obligatorischen karierten Hemden, modernen Wanderdoppelstöcken, Trekkingschuhen und schweren Rucksäcken. Gut ausgerüstet. Der Mann hat welliges graues Haar, seine Frau eine Dauerwelle und eine Brille. Offenbar sind die beiden auf dem Weg zum Bahnhof, um mit einem Regionalzug in die wunderschöne Umgebung meiner beschaulichen Heimatstadt zu fahren. Eine Station vor dem Bahnhof springt der Mann auf wie ein geölter Blitz. Bevor er sich jedoch um die Sitzbank drehen kann, schließt sich eine Hand wie ein Schraubstock um seinen Arm. "Sitzen bleiben, Alter!", ruft seine Frau. Sehr bestimmt und bestimmend. Sie zieht ihn zurück. Er setzt sich wieder. Rot im Gesicht ist er geworden und blickt starr geradeaus. Seine Hände umklammern angespannt seine Knie. Was nun kommt, kennt er wohl schon. Er weiß, was er zu erwarten hat. Sagt keinen Ton. Es folgen Fragen, Vorwürfe, Belehrungen. Er reagiert nicht, läßt alles über sich ergehen. Ich nicke ihm komplizenhaft zu. Dann steige ich auch aus.
Waldorff, 20:24h