Mittwoch, 15. Juni 2005
Dresden
Ich habe einmal für kurze Zeit in Dresden gewohnt.
Ich kenne die Stadt nicht besonders gut. Dennoch habe ich einen besonderen Bezug zu ihr. Mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen. Wenn ich in Dresden in der Straßenbahn saß, fielen mir Straßennamen auf, die mein Vater in seinen Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend genannt hatte.
Er erzählte mir von meinem Opa, den Bildhauer und Kunsttischler. Vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise hatte er acht Angestellte. Er schien bekannt und geschätzt zu sein und gestaltete einen Gedenkstein oder ein Mahnmal.
Zu welchem Anlaß das war oder ob das Werk den Krieg überstanden hat, weiß ich nicht.
Doch die Zeit nach dem ersten Weltkrieg meinte es nicht gut mit meinem Großvater. Die von ihm gefertigten Möbel mit ihren Zierleisten und Schnitzereien verkauften sich kaum. Die Menschen hatten kein Geld.
Dazu kam noch, daß es die 20er Jahre glatt und
ohne Schnörkel mochten. Mein Vater erzählte mir von der Leidenschaft meines Großvaters für Musik. Bei ihnen zuhause stand ein Klavier. Und wenn mein Großvater in Laune war, spielte er auf dem Klavier und sang dazu.
Ich weiß wenig mehr als dies über ihn.
Es existiert nur eine Fotografie von Opa, aufgenommen wenige Stunden vor seinem Tod in einem Dresdner Krankenhaus Ende der 20er Jahre. Das Bild ist klein, völlig zerknittert und etwas verschwommen. Ein Mensch mit wirrem Haar stützt sich auf und blickt in die Kamera. Manchmal glaube ich etwas erschreckt, irgendeine Familienähnlichkeit feststellen zu können, über die zeitliche Distanz von achtzig Jahren hinweg. Woran ist er gestorben, mit noch nicht einmal 50 Jahren? Eine Lungenkrankheit, glaube ich. Tuberkolose? Da war mein Vater gerade sieben Jahre alt.
Während ich durch Dresden fahre, fallen mir bruchstückhaft andere Geschichten ein, die mir mein Vater erzählt hat. Seine frühesten Erinnerungen stammen aus den 20er Jahren: Die ersten Autos, die in der Stadt fuhren, die großen Lichter und Kühler, mein Vater hielt sie für Tiere. Oder die Geschichte von den vorlauten Jungs in Knickerbockern aus seiner Straße, die jedem Fahrradfahrer zuriefen, er habe vergessen, seine Kette aufzupumpen. Das mag ein paar Jahre später gewesen sein.
Ich erinnere mich an die Episode mit den Nähnadeln, die mein Vater und seine Geschwister statt der versteckt gehaltenen Grammophonnadeln benutzten, um in der Abwesenheit der Mutter heimlich Musik zu hören. Das funktionierte, aber den Schellackplatten tat es nicht gut.
Dann gab's Ärger. Den gab es auch, wenn die Jungen sich nach dem Essen das Fett aus dem Topf auf ihre neuen kurzen Lederhosen rieben.
Aber: Nur speckig glänzende Hosen waren anerkannt, offensichtlich neue Hosen dagegen verpönt.
Eine weitere Fotografie: Meine Oma Ida, eine starke kleine Frau, die in der Mode der Endzwanziger vor antiken Versatzstücken (einer Säule, glaube ich) posiert und gefaßt, sogar ein wenig lächelnd zum Fotografen blickt. Sie hatte es nicht leicht mit ihren vielen Kindern und ohne ihren Mann. Sie ist in den 50er Jahren gestorben. Viel zu früh für mich. Ich konnte sie nicht mehr kennenlernen.
Dann kam der Stiefvater. Er hat meine Oma geheiratet und mit ihr eine Großfamilie. Oft war er überfordert mit der Kinderschar. Arbeitsloser Akademiker. Noch ein Foto: Der Stiefvater meines Vaters mit Degen und einer Korpsuniform als Student der TU Dresden. Er ist im Krieg in Polen gestorben.
Ein paar Jahre später. Es ist 1933. Mein Vater ist zwölf Jahre alt. Ein Lehrer stellt einen Plattenspieler auf. Behutsam nimmt er eine Platte aus ihrer Hülle. Er legt sie auf. Richard Tauber singt. Eine wunderschöne Stimme. "Hört gut zu. Hört euch das gut an. Das werdet ihr lange nicht mehr hören.", raunt der Lehrer. Mein Vater hat den Zusammenhang erst viel später verstanden. Von der Musik war er damals beeindruckt. Vielleicht hat sogar diese kurze Vorführung seine lebenslangen Leidenschaft für die Oper geweckt.
Erinnerungen, die nicht meine sind, aber durch die Erzählungen meines Vaters auch zu meinem Leben gehören.
Ich sitze in der Straßenbahn. Endhaltestelle.
Ich kenne die Stadt nicht besonders gut. Dennoch habe ich einen besonderen Bezug zu ihr. Mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen. Wenn ich in Dresden in der Straßenbahn saß, fielen mir Straßennamen auf, die mein Vater in seinen Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend genannt hatte.
Er erzählte mir von meinem Opa, den Bildhauer und Kunsttischler. Vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise hatte er acht Angestellte. Er schien bekannt und geschätzt zu sein und gestaltete einen Gedenkstein oder ein Mahnmal.
Zu welchem Anlaß das war oder ob das Werk den Krieg überstanden hat, weiß ich nicht.
Doch die Zeit nach dem ersten Weltkrieg meinte es nicht gut mit meinem Großvater. Die von ihm gefertigten Möbel mit ihren Zierleisten und Schnitzereien verkauften sich kaum. Die Menschen hatten kein Geld.
Dazu kam noch, daß es die 20er Jahre glatt und
ohne Schnörkel mochten. Mein Vater erzählte mir von der Leidenschaft meines Großvaters für Musik. Bei ihnen zuhause stand ein Klavier. Und wenn mein Großvater in Laune war, spielte er auf dem Klavier und sang dazu.
Ich weiß wenig mehr als dies über ihn.
Es existiert nur eine Fotografie von Opa, aufgenommen wenige Stunden vor seinem Tod in einem Dresdner Krankenhaus Ende der 20er Jahre. Das Bild ist klein, völlig zerknittert und etwas verschwommen. Ein Mensch mit wirrem Haar stützt sich auf und blickt in die Kamera. Manchmal glaube ich etwas erschreckt, irgendeine Familienähnlichkeit feststellen zu können, über die zeitliche Distanz von achtzig Jahren hinweg. Woran ist er gestorben, mit noch nicht einmal 50 Jahren? Eine Lungenkrankheit, glaube ich. Tuberkolose? Da war mein Vater gerade sieben Jahre alt.
Während ich durch Dresden fahre, fallen mir bruchstückhaft andere Geschichten ein, die mir mein Vater erzählt hat. Seine frühesten Erinnerungen stammen aus den 20er Jahren: Die ersten Autos, die in der Stadt fuhren, die großen Lichter und Kühler, mein Vater hielt sie für Tiere. Oder die Geschichte von den vorlauten Jungs in Knickerbockern aus seiner Straße, die jedem Fahrradfahrer zuriefen, er habe vergessen, seine Kette aufzupumpen. Das mag ein paar Jahre später gewesen sein.
Ich erinnere mich an die Episode mit den Nähnadeln, die mein Vater und seine Geschwister statt der versteckt gehaltenen Grammophonnadeln benutzten, um in der Abwesenheit der Mutter heimlich Musik zu hören. Das funktionierte, aber den Schellackplatten tat es nicht gut.
Dann gab's Ärger. Den gab es auch, wenn die Jungen sich nach dem Essen das Fett aus dem Topf auf ihre neuen kurzen Lederhosen rieben.
Aber: Nur speckig glänzende Hosen waren anerkannt, offensichtlich neue Hosen dagegen verpönt.
Eine weitere Fotografie: Meine Oma Ida, eine starke kleine Frau, die in der Mode der Endzwanziger vor antiken Versatzstücken (einer Säule, glaube ich) posiert und gefaßt, sogar ein wenig lächelnd zum Fotografen blickt. Sie hatte es nicht leicht mit ihren vielen Kindern und ohne ihren Mann. Sie ist in den 50er Jahren gestorben. Viel zu früh für mich. Ich konnte sie nicht mehr kennenlernen.
Dann kam der Stiefvater. Er hat meine Oma geheiratet und mit ihr eine Großfamilie. Oft war er überfordert mit der Kinderschar. Arbeitsloser Akademiker. Noch ein Foto: Der Stiefvater meines Vaters mit Degen und einer Korpsuniform als Student der TU Dresden. Er ist im Krieg in Polen gestorben.
Ein paar Jahre später. Es ist 1933. Mein Vater ist zwölf Jahre alt. Ein Lehrer stellt einen Plattenspieler auf. Behutsam nimmt er eine Platte aus ihrer Hülle. Er legt sie auf. Richard Tauber singt. Eine wunderschöne Stimme. "Hört gut zu. Hört euch das gut an. Das werdet ihr lange nicht mehr hören.", raunt der Lehrer. Mein Vater hat den Zusammenhang erst viel später verstanden. Von der Musik war er damals beeindruckt. Vielleicht hat sogar diese kurze Vorführung seine lebenslangen Leidenschaft für die Oper geweckt.
Erinnerungen, die nicht meine sind, aber durch die Erzählungen meines Vaters auch zu meinem Leben gehören.
Ich sitze in der Straßenbahn. Endhaltestelle.
Waldorff, 17:10h